Wenn Kommunikationsstile aufeinanderprallen: Wie Kultur unsere Emotionen prägt

„Ach George, du siehst so müde aus.“ Ich ärgerte mich über diesen Satz. Ja, meine Nachbarin hatte zwar recht, die letzten Wochen waren sehr anstrengend gewesen. Aber musste sie mich unbedingt darauf ansprechen? Ich machte sofort dicht und entgegnete lapidar, ich hätte mein Make-up vergessen. Irgendwie fühlte ich mich von ihr kritisiert, geradezu angeklagt.

Aber warum eigentlich? Im Nachhinein erschien mir meine Reaktion dann doch etwas schroff, viel zu emotional. Ich fragte mich, ob das kulturell bedingt war. Bin ich nach 15 Jahren in Norddeutschland mit dem Herzen immer noch in Großbritannien zuhause? Müsste ich nicht längst ganz anders reagieren?

Kultur

Spielt die Kultur in unserer Erziehung eine Rolle?

Wenn es um unsere Gefühle geht, haben kulturelle Unterschiede in der Tat eine große Bedeutung. In jeder Kultur legt man Wert auf bestimmte Werte, und das beeinflusst unsere Erziehung als Kind. Das wiederum prägt unsere Werte, unsere Ansichten und unsere Gefühlswelt im Erwachsenenalter – und letzten Endes die Art, wie wir miteinander reden. 

Während man nämlich in Deutschland direkt und ehrlich miteinander umgeht, lege ich auf Höflichkeit und Zurückhaltung großen Wert. Es war ein ziemlicher Kulturschock für mich, als ich hierhergezogen bin. All meine Mitmenschen hatten anscheinend zu jedem Thema eine Meinung, und nicht nur das, sie ließen mich auch ganz offen daran teilhaben!

Gingen beispielsweise meine kleinen Kinder bei schlechtem Wetter ohne Mütze aus dem Haus, empörten sich Passanten, dass man sich anders anziehen müsse. Oder war ein Freund von mir zu einem bestimmten Thema anderer Meinung, sagte er rundheraus: „Das ist falsch.“ Solche offenen Kommentare erhielt ich von vielen Leuten. Zu allem nicht nur eine Meinung zu haben, sondern diese auch noch frei zu äußern, egal wie das auf den anderen wirkt, das erschien mir fremd. 

Es passte einfach nicht zu meiner (zugegebenermaßen konservativen) Erziehung, wo Taktgefühl und Diplomatie wichtiger waren als die ungefilterte Wahrheit. „Wenn du nichts Nettes sagen kannst, dann sag gar nichts“, so wurde es uns von klein auf beigebracht. Die Gefühle anderer Leute haben Vorrang vor den eigenen. Vielleicht habe ich mich daher daran gewöhnt, meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse hintanzustellen. Langfristig womöglich sogar zu meinem Nachteil? 

Ein Ratespiel

Als Deutsche oder Deutscher fragt man sich jetzt natürlich: Wie sagen denn die Britinnen und Briten, was sie wirklich möchten? Angenommen, bei der Teatime in den eigenen vier Wänden ist noch genau ein Keks übrig. Man fragt dann, ob jemand ihn möchte – „Nimm du ihn gern!“, wird es dann heißen. Die britische Gesprächspartnerin oder der britische Gesprächspartner wertet die Frage nämlich als höfliche Erkundigung des Fragestellenden, ob sie oder er selbst sich bedienen darf. Stelle ich nun bei mir zuhause dieselbe Frage, greift mein (deutscher) Ehemann beherzt zu und mir bleiben höchstens ein paar Krümel. „Du hast doch gefragt, ob ihn jemand haben will!“, ist dann die Antwort. Wenn man nicht in der britischen Kultur aufgewachsen ist, ist es schwierig, die eigentliche Botschaft zu erkennen.

Ich könnte natürlich im Konjunktiv höflich nach etwas fragen. „Hätte jemand etwas dagegen, wenn wir ein Fenster öffnen?“ Das klänge aber so, als würde ich eine Erlaubnis einholen wollen. Entsprechend kann eine Ablehnung die Folge sein – gern mit einer langwierigen Begründung und Belehrungen über die effizienteste Art der Raumlüftung (und in letzter Zeit gern auch mit Tipps zum Energiesparen). Keiner käme auf die Idee, dass mir einfach zu warm ist, weil ich es nicht ausdrücklich gesagt habe. Würde ich aussprechen, wie ich mich fühle und was ich wirklich brauche, würde die Antwort vielleicht anders ausfallen.

Wenn ich mir anschaue, wie Kinder in Deutschland aufwachsen, staune ich immer wieder, wie ihre Eltern sie dazu anleiten, ihre Gefühle auszudrücken.

Unterricht

In der Schule hängen die Noten großteils davon ab, wie oft man sich mündlich zu Wort meldet. Darüber hinaus scheint man Kinder oft sogar bewusst etwas intensiver anzusprechen, damit sie sich an Kritik gewöhnen und robuster werden. Der alte Spruch „Kinder sollte man sehen und nicht hören“ gehört einfach nicht zum kulturellen Alltag. Und seitdem ich das erkannt habe, motiviere ich meine eigenen Kinder dazu, offen zu sagen, was sie meinen, und Kritik anzunehmen, statt sie zurückzuweisen. Das ist sehr wichtig.

Interkulturelle Akzeptanz

Aber ich bin immer noch etwas zögerlich, meinen Hang zur britischen Höflichkeit völlig aufzugeben. Gerade in hitzigen Debatten und kontroversen Diskussionen hat es ja einen gewissen Reiz, die Contenance zu bewahren. Dann kann ich nämlich genauer beobachten und zuhören, die Argumente abwägen und mir eine nuanciertere Meinung bilden. Natürlich muss man sich manchmal äußern und sich Gehör verschaffen, insbesondere wenn es um Gerechtigkeit und Gleichbehandlung geht. Aber selbst dann versuche ich dies mit Respekt und Augenmaß und gebe mir Mühe, die Gefühle und Ansichten der Menschen um mich herum zu berücksichtigen. Höflichkeit bedeutet schließlich weder Schwäche noch Teilnahmslosigkeit – es heißt einfach, andere auch in schwierigen Situationen freundlich und rücksichtsvoll zu behandeln.

Die deutsche und die britische Gesellschaft haben also unterschiedliche Normen und Erwartungen, und Emotionen werden unterschiedlich ausgedrückt. Wenn man das erkannt hat, kann man effektiver kommunizieren und festere Bindungen aufbauen. So hätte ich also die Bemerkung meiner Freundin, wie müde ich doch aussah, in diesem Zusammenhang sehen sollen. Es war eine nüchterne Feststellung, und sie machte sich Sorgen. Sie wollte mich nicht anklagen, sondern eine ehrliche Antwort, warum ich derzeit nicht zur Ruhe komme. Sie wollte nicht, dass ich es einfach abtue und mich als perfekte Person ohne Makel darstelle. Stattdessen hätte sie mir ihre Unterstützung angeboten. Das hatte ich damals einfach nicht erkannt.

Um die kulturellen Unterschiede in unseren Gefühlswelten zu überwinden, müssen wir uns ihrer bewusst sein. Nur so können wir offen und verständnisvoll mit unseren Mitmenschen umgehen. Mit Freundlichkeit und Mitgefühl lassen sich kulturelle Grenzen aber mit Leichtigkeit überschreiten, und wir können unsere inneren Mauern und Vorurteile abbauen. Wenn wir uns in den anderen hineinversetzen und seine Sichtweise verstehen, erkennen wir langsam das Verbindende und können auf einer anderen Ebene Beziehungen zueinander aufbauen – unabhängig davon, wie wir uns ausdrücken. 

Georgina Mahler
«Als langjähriges Mitglied des English Departments übersetzt und redigiert Georgina Mahler seit fast 14 Jahren für Apostroph Germany. Zu ihren Hobbys gehören Laufen, Klavierspielen und das Lösen von Wordles in weniger als drei Versuchen.»
Georgina Mahler · Autorin des Blogs

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Tamara Weßel
Operative Geschäftsleitung
Tamara Weßel Operative Geschäftsleitung Apostroph Germany

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